Wie können Staaten Obdachlosigkeit verhindern?

Die Obdachlosenzahlen in Europa steigen seit der Finanzkrise 2008 stetig. Mit der Ausnahme Finnlands. Es ist das einzige Land Europas, in dem die Zahl der Obdachlosen tatsächlich abnimmt. Was macht das nordische Land anders als der Rest Europas? Finnland folgt dem „Housing First“ Ansatz. Das ist ein relativ neuer Ansatz in der Sozialpolitik, bei dem die eigene Wohnung für Obdachlose am Anfang und nicht am Ende des Prozesses steht. Normalerweise müssen Menschen auf der Straße mehrere Kriterien erfüllen, bevor sie „wohnfähig“ werden. Am Anfang steht meist der Drogenentzug, eine Notunterkunft, dann Übergangswohnungen und zum Schluss die eigenen vier Wände, in denen die Menschen dann allein zurechtkommen müssen. Bei „Housing First“ wird Obdachlosen zuerst die eigene Wohnung vermittelt und dann kontinuierlich Betreuung angeboten. Sollte der Rest Europas Finnlands Beispiel folgen?

Was denken unsere Leserinnen und Leser?

Ihr habt uns EURE Fragen und Kommentare zugeschickt und wir haben sie an einen Politikerin und einen Wohnexperten weitergeleitet!

Unsere Leserin Julia hat uns diesen Kommentar zugeschickt:

Obdachlosigkeit ist reine Grausamkeit. Die Grundbedürfnisse eines jeden Menschen sollten erfüllt werden. Es wurde ein gewinnorientiertes System geschaffen, in dem die 97 % für die Gewinne und den Reichtum der anderen 3 % leiden können. Es ist an der Zeit, das System zu aktualisieren. Wenn Geld aus Schulden erschaffen wird, sollte man einfach Geld als Schulden erschaffen, um die Grundbedürfnisse der Menschen zu decken, und dann die Löschtaste drücken.

Wie reagiert die Europaabgeordnete und stellvertretende Vorsitzende des Ausschusses für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten Leïla Chaibi auf Julias Kommentar?

Danke, Julia, für diese Frage! Ich stimme dir vollkommen zu. Wohnraum sollte nicht dem Profit unterworfen sein, er sollte nicht Gegenstand eines Marktes sein, auf dem wir spekulieren, denn ein Dach über dem Kopf zu haben, ein angemessener Wohnraum ist die Grundlage für den Zugang zu anderen Rechten im Leben.

Heute gibt es in Europa 700.000 Obdachlose. Wenn wir alle leer stehenden Wohnungen zählen – Gebäude, die überall in der Europäischen Union leer stehen – hätten wir genug Platz für sie. Aber als die Europäische Union gegründet wurde, stand das „Dogma“ der Märkte und des Wettbewerbs im Mittelpunkt. Und wir waren der Meinung, dass Wohnen kein Grundrecht ist, sondern dem Markt überlassen werden sollte.

Es gibt eine Reihe von politischen Maßnahmen der Europäischen Union, die uns daran gehindert haben, genügend Wohnungen zu bauen, damit jeder, der sie brauchte, ein Zuhause haben konnte. Ich werde Ihnen einige Beispiele nennen: Es gibt Regeln für staatliche Beihilfen. Wenn Sie ein Mitgliedstaat der Europäischen Union sind, können Sie nicht in den Bau von Sozialwohnungen investieren, wie sie benötigt würden, weil Sie als unfairer Konkurrent des privaten Sektors angesehen werden. Das Problem ist also, dass plötzlich eine Lücke zwischen Angebot und Nachfrage nach Wohnraum entsteht. Es gibt viel mehr Wohnungssuchende, die sich an Angebote binden, wodurch ein ganzer Teil der Wohnungssuchenden von der Möglichkeit des Zugangs zu einer Wohnung ausgeschlossen wird, und das führt zu Obdachlosigkeit.

Es gibt auch andere Vorschriften, die in den letzten Jahren ausgesetzt wurden und die die Fähigkeit der Mitgliedstaaten einschränken, in den Wohnungsbau zu investieren. Da ist zum Beispiel die 3 %-Regel: Als EU-Mitgliedstaat darf man das Defizit von 3 % nicht überschreiten, und das ist oft ein Hindernis für Investitionen, wie sie im sozialen Wohnungsbau nötig wären. Es sind solche politische Maßnahmen, die zu Obdachlosigkeit führen. Insbesondere die von der Europäischen Union geförderte Sparpolitik führte dazu, dass Obdachlosigkeit die Fortsetzung eines ganzen Weges ist.

Das sind Politiken, die zu Obdachlosigkeit führen. Man wird nicht zufällig obdachlos, es fällt nicht vom Himmel. Sie ist das Ergebnis einer prekären Situation. Es geht also darum, dafür zu sorgen, dass sich die öffentlichen und politischen Entscheidungen der EU nicht an den Maßstäben oder Regeln des Marktes orientieren, sondern an der Dringlichkeit der sozialen Notlage, und das ist es. Das wird es ermöglichen, die 700.000 Menschen aus der Obdachlosigkeit zu befreien und ihnen eine Wohnung zu geben.

Unser Leser Ginster sieht Obdachlosigkeit im Kontext der Wohnungsnot in den Städten. Er fordert:

Es muss einfach mehr bezahlbarer Wohnraum geschaffen werden!

Was sagt Samir Kulenovic, von der Entwicklungsbank des Europarats zu Ginsters Vorschlag (Interview 2018)?

„Mehr zu bauen“ ist nicht überall die beste Lösung. Vielmehr müssen wir die Verfügbarkeit von angemessenen Wohnungen erhöhen. An manchen Orten würde dies bedeuten, dass mehr Häuser gebaut werden müssen; aber vor allem in Städten kann es bedeuten, stattdessen Anreize und Verpflichtungen für Bauunternehmer so zu ändern, dass sie sozialen Wohnraum ausbauen oder dafür sorgen, dass leerstehende Wohngebäude auch für Menschen mit niedrigem und mittlerem Einkommen bewohnt werden können und dass leerstehende Geschäftsgebäude in Wohngebäude umgewandelt werden.

Nur in Wohnungsbau zu investieren, reicht also nicht aus. Wichtig sind auch Regulierungen l, die zum Beispiel flexible Wohnungsmodelle fördern, wie Wohngemeinschaften, oder die Bereitstellung innovativer Finanzierungsinstrumente. Dies kann dazu beitragen, die Wohnungsnot nachhaltig zu bekämpfen.

Sollten wir jedem Obdachlosen eine Wohnung stellen?

Können wir von unseren skandinavischen Nachbarn lernen und die Obdachlosigkeit in ganz Europa verringern, indem wir das Modell „Housing First“ anwenden? Lässt sich Obdachlosigkeit ganz beseitigen? Schreib uns einen Kommentar und wir leiten ihn an Politiker:innen und Expert:innen weiter!

Foto: (c) BigStock – Srdjanns74 PORTRAIT: Brezzi, Kulenovic (c) CEB. Alain ROLLAND
© European Union 2022 – Source : EP
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7 Kommentare Schreib einen KommentarKommentare

Was denkst Du?

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    Mirko

    warum eigentlich nicht. in den dörfern gibt es zig leerstehende häuser, da könnten die doch gut untergebracht werden

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    Anonymous

    lieber obdachlosigkeit direkt verhindern! dafür müsste aber unser sozialsystem ausgebaut werden und dafür sehe ich wenig politischen willen

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    Wolo

    Selbstverständlich sind alle obdachlosen Menschen mit einer Wohnung zu versorgen – oder eine andere selbstbestimmte Wohnform.

    Das gebietet schon das Menschenrecht auf Wohnung!

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    Rolf

    ich finde das nicht fair. ich arbeite jeden tag hart und ein großer anteil meines gehalts geht direkt in meine miete. warum sollten andere menschen eine wohnung gratis bekommen

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    Mona

    Ich glaube in Finnland gab es mal eine Studie dazu und die hat gezeigt, dass die obdachlosen die einen wohnraum bekommen haben dann nach einem jahr oder so wieder einen job und eine arbeit hatten. im endeffekt soll es sogar günstiger für den Staat sein (Buch: Utopien von Realisten)

  6. avatar
    Li

    Diãten für alle. Wohnung, Nahrung, Arbeit, Studium, Lehre, Urlaub

    • avatar
      Li

      Hauptsache in fremden Ländern mitbestimmen, ob Frauen Auto fahren oder studieren dürfen

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