
Eines der grundlegenden Prinzipien der Europäischen Union ist die Rechtsstaatlichkeit.
Ländern, die sich nicht an das Rechtsstaatsprinzip halten, ist es nicht erlaubt, der EU beizutreten. Doch was passiert, wenn Regierungen von Staaten, die bereits Mitglied der EU sind, immer wieder gegen das Prinzip verstossen, und ihren Rechtsstaat abbauen?
Schon seit Jahren streiten sich Ungarn und Polen mit der EU.
Doch laut einem aktuellen Bericht der Europäischen Kommission sind sie nicht die einzigen Länder, die gegen bestimmte demokratische Standards verstoßen. Dialog und Warnungen von Seiten der EU in den letzten Jahren hatten scheinbar wenig Wirkung. Daher diskutieren die europäischen Institutionen derzeit, ob sie die Frage der Rechtsstaatlichkeit auch mit finanziellen Sanktionen verknüpfen sollten. Der kommende EU-Haushalt soll zum ersten Mal direkt an das Prinzip der Rechtstaatlichkeit geknüpft werden, sodass Ländern die gegen grundlegende Prinzipien verstoßen EU-Mittel gekürzt werden können. Ist das der beste Weg, die Demokratie in Europa zu erhalten und zu schützen?
Was denken unsere Leserinnen und Leser?
Wir haben Euch dazu eingeladen, dieses Thema mit dem Europaabgeordneten Michal Šimečka zu diskutieren. Er ist der stellvertretende Vorsitzende der Renew Europe Fraktion im Europaparlament und der Berichterstatter des Parlaments für den EU Mechanismus für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte. Hier geht es zur gesamten Debatte auf Englisch, unten haben wir für Euch die Highlights auf Deutsch zusammengefasst.
Marlijn fragte, wie die Sanktionen, die gegen Laender auf Grund einer Verletzung der Rechtsstaatlichkeit verhängt werden, effektiver gemacht werden koennten. Was denkt Michal Šimečka?
„Das ist die Frage, die wir uns alle in den letzten Jahren gestellt haben, weil wir sehen wie sich die Lage in Bezug auf Rechtstaatlichkeit, Demokratie und Grundrechte in Ungarn und Polen verschlechtert hat. Ich wuerde das Wort Sanktionen eher nicht benutzen, im Moment diskutieren wir darueber, ob die Auszahlung von EU-Geldern – und wir reden hier von sehr viel Geld, nicht nur ueber den normalen Haushalt, sondern auch ueber das Corona-Rettungspaket – an Bedingungen geknuepft sein sollte. Eine dieser Bedingungen waere die Einhaltung der EU-Grundrechte, wie der Rechtstaatlichkeit. Also waeren das nicht per se Sanktionen, aber es wäre eine eindeutige Stellungnahme: Wir sind eine europäische Gemeinschaft und es gibt Solidarität zum Beispiel in Form von europäischen Geldern, aber das bringt auch gewisse gemeinsame Prinzipien mit sich, an die sich jeder halten sollte. Es gibt natürlich auch echte Sanktionen, zum Beispiel kann die europäische Kommission kann eine Klage gegen die Regierung eines Mitgliedsstaats vor dem Europäischen Gerichtshof einreichen. Sollte sich dieses Mitgliedsland auch nach dem Urteil nicht an die Rechtsstaatlichkeit halten, dann kann die EU auch finanzielle Strafen verhängen, aber das passiert nur sehr selten. Das ist das Problem und genau deshalb besprechen wir gerade ob Gelder an Werte geknüpft sein sollte. Dass wir jetzt über Geld sprechen liegt daran, dass wir vorher schon alle möglichen anderen Mittel, wie Dialog, Empfehlungen und politischen Druck, ausprobiert haben. Aber es hat nicht funktioniert. Und deswegen versuchen wir es jetzt mit Geld sozusagen als letzten Ausweg. Kein anderes Mittel hat funktioniert. Artikel 7 des Vertrages über die EU könnte theoretisch zum Aussetzen des Stimmrechts von Mitgliedern führen, aber dazu ist es in der Realität nie gekommen. Wir haben zwar andere Wege diese Probleme mit den Mitgliedsstaaten zu besprechen, das haben wir jetzt seit 10 Jahren probiert, inzwischen ist die Situation in Polen und Ungarn schlechter geworden, und es sind nur diese zwei Staaten. Heute haben wir zwischen dem Europaparlamanet und dem Europäischen Rat eine Vereinbarung getroffen. Ich denke, dass diese Vereinbarung sehr effektiv sein kann und vor allem muss es eine Möglichkeit geben diesen Mechanismus aktivieren zu können. Und genau das ist der Knackpunkt, dass wir nicht ein weiteres bürokratische Mittel erstellen, was letztendlich nicht genutzt wird. Ich denke, um das abzusichern ist der beste Weg der europäischen Kommission das Initiativrecht zu geben, anstatt dass alle Mitgliedsländer dem einstimmig zustimmen müssen. Denn das wird nie passieren.“
Auf dem Hintergrund der pro-demokratischen Proteste in der Ukraine und in Weißrussland, aber auch dem Anstieg von autoritären Regimen wie China, fragt sich Artem, ob Demokratie noch als universaler Grundwert angesehen werden kann. Und könnte Demokratie doch letztendlich gegenüber dem Autoritarismus gewinnen?
Ich glaube fest daran, dass Demokratie ein universeller Wert ist und bleiben sollte. Die EU sollte das auch intern versichern. Übrigens ist das eines der Probleme, die die EU hat, wenn sie versucht, die Demokratie anderswo zu fördern, zum Beispiel auf dem Westbalkan oder an anderen Orten. Denn wir verlieren an Glaubwürdigkeit, wenn wir Länder in unserer eigenen Mitte haben, die hinter den Demokratiestandards zurückbleiben. Man sieht in der Ukraine und in Weißrussland, dass es autoritäre Führer gibt, die die Demokratie zurückdrängen, und dass der Autoritarismus mit China scheinbar auf dem Vormarsch ist. Aber es gibt auch massive pro-demokratische Proteste in allen Ecken der Welt, wie in Hongkong und Weißrussland. Das deutet darauf hin, dass Demokratie ein starker Wert ist, hinter dem die Menschen sich vereinen und den sie fordern. Auch das Argument, dass autoritäre Staaten bei der Bereitstellung öffentlicher Güter, wie der Eindämmung der Pandemie, effektiver sind, finde ich schwach. Denn auch Demokratien, wie einige Länder in Europa, aber auch Südkorea und Taiwan, haben im Umgang mit der Pandemie gut abgeschnitten haben, so dass selbst das Argument der Effizienz nicht wirklich funktioniert. Die Europäische Union kann nicht funktionieren, wenn sie nicht eine Gemeinschaft von Demokratien ist. Und das ist meiner Meinung nach einer der Hauptfehler, den wir im Moment machen, dass wir Ungarn, Polen oder andere problematische Mitgliedsstaaten aus der Verantwortung nehmen, weil „wir uns schließlich auf wichtigere Dinge konzentrieren müssen“. Denn auf lange Sicht kann die EU, einschließlich des Binnenmarktes und aller anderen Kooperationen, nicht funktionieren, wenn wir eine Gemeinschaft sind, in der einige Länder Demokratien, einige Halbdemokratien und andere Diktaturen sind. So ist die EU nicht aufgebaut, und sie wird auseinander brechen, wenn dies der Fall sein sollte. Und ich glaube immer noch, dass die Demokratie und das damit verbundene Vertrauen zwischen unseren europäischen Nationen der Leim ist, der die Europäische Union zusammenhält. Deshalb muss die EU pro-demokratische Bewegungen in Belarus, in der Ukraine und anderswo unterstützen, aber zuerst müssen wir auch vor unserer eigenen Haustür Ordnung schaffen.
Funktioniert unsere Demokratie?
Muss die EU auf die gemeinsamen Werte stärker bestehen? Sollten EU-Gelder an Rechtsstaatlichkeit gebunden werden? Was denkt Ihr? Schreibt uns!
Foto: Unsplash (cc) Markus Spiske; Portrait: © European Union 2020 – Source : EP
3 Kommentare Schreib einen KommentarKommentare
Klar funktioniert sie noch….in der Antarktis.
ich bin sehr skeptisch ob der rechtstaatlichkeits mechanismus wirklich funktionieren wird. die kommission hat nicht genug macht.
Das momentan größte gefühlte Demokratiedefizit liegt mittrn in Europa und wird Schland genannt.