
Rechtlich sind Männer und Frauen in Europa gleichberechtigt. Weltweit gilt als Basis der Gleichheitssatz der Menschenrechtekonvention der Vereinten Nationen: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“ Der Feminismus setzt sich dafür ein, dass diese Gleichstellung auch umgesetzt wird und Ungerechtigkeiten beseitigt werden. Hat er seine Rolle (zumindest in Europa) dann erfüllt?
Die tradierten Rollenbilder verändern sich, sind aber noch tief verankert. Laut einer Studie des Bundesfamilienministeriums ist die Hälfte der Männer vom Sinn und Nutzen einer Gleichstellungspolitik überzeugt. Es stimmen auch 80 Prozent der Männer zu, dass Gleichstellung zwischen Mann und Frau sehr wichtig für die Gesellschaft sei und das klassische Familienmodell mit Hauptverdiener und Hausfrau ausgedient habe. Trotzdem sind noch immer 80 Prozent der Männer davon überzeugt, dass die Frau dem Mann für seinen Job den Rücken freihalten muss. Auch bei Hausarbeit zeigen sich noch immer deutliche Unterschiede: Die aufgewendete Zeit gleicht sich zwischen Mann und Frau an, dennoch sind noch immer klar die Frauen verantwortlich. Werden sich diese Zahlen mit der nächsten Generation verändern?
Die Ziele der Gleichstellungspolitik gelten bei Jüngeren als gerecht und gut, sie sind die soziale Norm. Schaut man aber auf die jugendlichen Vorbilder auf YouTube, fühlt man sich wieder wie in den 50ern. Erfolgreiche Influencerinnen zeigen sich in ihrer Wohnung mit Hobbies wie basteln, kochen und Schönheitsprodukten; ihre männlichen Kollegen stellen sich als professionelle Medienmacher mit breitem Angebot dar. So werden Sponsoren gefunden, Klicks und Likes gewonnen. Je rollentypischer, desto mehr Gewinn.
Populistische Parteien haben gemeinsam, dass sie progressive Frauenpolitik umkehren wollen. So setzt die polnische PiS Regierung konsequent eine Politik gegen alle Frauen um, die nicht als Hausfrau und Mutter in einer kinderreichen Ehe mit einem Mann leben. Auch die AfD in Deutschland fordert eine Rückkehr „zur klassischen Familie“. Sind die bereits erkämpften Rechte also sogar bedroht?
Was denken unsere Leser? Wir erhielten einen Kommentar von Christian, er denkt, dass es längst Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau gebe, da das Grundgesetz gelte. Unterschiede entstünden aus rein persönlichen Entscheidungen. Hat er recht?
Für eine Antwort sprachen wir mit Dagmar Schumacher, Direktorin des Brüsseler Büros des UN-Entwicklungsfonds für Frauen. Sind Frauen den Männern schon längst gleichgestellt?
Leider ist das nicht richtig. Erstens haben wir die Gleichstellung der Geschlechter in noch keinem Land der Welt erreicht, so dass wir noch einen langen Weg vor uns haben. Natürlich gab es in den letzten Jahrzehnten viele Fortschritte, aber es besteht die Gefahr, dass kein einziges Land die in der Agenda 2030 festgelegten Ziele in Bezug auf die Gleichstellung der Geschlechter rechtzeitig erreichen wird. Wir sehen eine Gegenreaktion bei bestimmten Themen, einschließlich der reproduktiven Gesundheit und sexuellen Rechte.
Geschlechterungleichheiten gehen weit über persönliche Entscheidungen hinaus, denn sie sind Ausdruck institutionalisierter Ungleichheiten. Das politische Umfeld und die bestehende Politik sind entscheidend für die Festlegung der Agenda für Frauen und Männer, Mädchen und Jungen und die Gesellschaft insgesamt. Sie geht daher über den Einzelnen hinaus, auch wenn Kultur, Traditionen und Geschlechterstereotypen offensichtlich eine starke Wirkung auf der individuellen Ebene haben. Um auf die Frage von Christian zurückzukommen: Persönliche Entscheidungen sind natürlich entscheidend, um die Gleichstellung der Geschlechter im eigenen Haushalt, der Familie oder sogar in der Gemeinde zu gewährleisten, aber auch hier fehlt, wenn die Gesetzgebung diskriminierend ist, die rechtliche Sicherheit zur Gewährleistung der Gleichstellung der Geschlechter. So ist die Gesetzgebung zur häuslichen Gewalt ein Beispiel dafür. Wenn Sie kein Gesetz haben, das häusliche Gewalt verbietet, wird es viel schwieriger sein, sich gegen häusliche Gewalt zu wehren. Gesetze müssen die Gleichstellung sowohl im öffentlichen als auch im privaten Bereich gewährleisten, denn auch wenn der Einzelne der Schlüssel zur Gleichstellung der Geschlechter ist, können wir uns bei der Erreichung eines so wichtigen Ziels nicht nur auf persönliche Entscheidungen verlassen.
Leser Julian ist wiederum der Meinung, dass Sexismus noch immer allgegenwärtig sei und auch gerade politisch wieder auf der Agenda stehe. Drohen uns Rückschritte?
Für eine weitere Perspektive fragten wir Emma Rainey. Sie organisiert bei Brussels Binder Expertinnen für politische Debatten, so dass die rein männlichen Diskussionen der Vergangenheit angehören sollen. Wie antwortet sie Leser Julian?
Ja, Julian hat recht. Wir haben noch nie 100 Prozent Gleichstellung erreicht, aber es gab natürlich in den letzten Jahrzehnten viele Fortschritte. Die letzten zehn Jahre haben wir aber einen Stillstand erlebt und auch in einigen Mitgliedsländern der EU den Erfolg rechtskonservativer oder rechtsextremer Parteien gesehen, wie in Polen oder Ungarn. In diesen Ländern sehen wir, dass Gleichstellung angegriffen wird. In Ungarn sind Gender Studies jetzt verboten und die vermeintliche Frauenpolitik will Frauen zu Gebärmaschinen machen. Als Feministinnen müssen wir im Auge behalten, was wir bereits erreicht haben und dürfen keine Rückschritte zulassen.
Was sagt Dagmar Schumacher zu drohenden Rückschritten?
Julian spricht einen wichtigen Punkt an, aber ich möchte auch positiv bleiben und wiederholen, dass wir viele Fortschritte bei der Gleichstellung der Geschlechter erzielt haben. Statistiken zeigen, dass sich die Lücken, wie dem Lohngefälle – wenn auch sehr langsam – schließen. Gleichzeitig, sehen wir einen Trend der Gegenreaktion und wir sehen Rückfalle bei bestimmten Rechten, die wir in fortschrittlichen Ländern als selbstverständlich ansehen. In diesem Zusammenhang ist Sexismus in der Tat Ausdruck dafür, dass diese Rechte in Frage gestellt werden, wir sehen ein Erstarken des Sexismus durch zügellose Misogynie und geschlechtsspezifische Diskriminierung. Heute werden in einigen europäischen Ländern sogar Begriffe wie Geschlecht oder Gleichstellung in Frage gestellt.
Positiv zu vermerken ist, dass sich seit #MeToo viel um das Thema Sexismus in all seinen Facetten bewegt hat. Es ist inzwischen allgemein bekannt, dass Frauen am Arbeitsplatz, im Privatleben und im öffentlichen Leben sexuellen Belästigungen ausgesetzt sind. Es wird nicht unbedingt besser, sondern in bestimmten Bereichen wie der Politik immer schlechter. Wir haben jetzt jedoch eine wunderbare Gelegenheit, im Zusammenhang mit der Gleichstellung der Geschlechter etwas zu bewirken, denn im nächsten Jahr jährt sich die sehr fortschrittliche Pekinger Erklärung und Aktionsplattform von 1995. Dies wird eine einzigartige Gelegenheit sein, die Gleichstellung der Geschlechter weiter voranzutreiben und gleichzeitig eine Bestandsaufnahme dessen vorzunehmen, was erreicht wurde und was noch zu tun ist. Anlässlich dieses Jahrestages kommen Staats- und Regierungschefs, Vertreter der Privatwirtschaft, der Zivilgesellschaft, der Wissenschaft und der Weltbürger zusammen, um sich für die Gleichstellung der Geschlechter einzusetzen. Abschließend möchte ich sagen, dass wir bei der Bekämpfung des Sexismus und bei der Geschlechtergleichstellung auf ein besonderes Engagement der Männer zählen, da die Gleichstellung der Geschlechter der gesamten Gesellschaft zugutekäme.
Seid ihr von der Gleichstellung zwischen Mann und Frau überzeugt? Haben wir nur Gleichstellung auf dem Papier aber noch nicht in der gelebten Realität? Was muss sich für wahre Gleichberechtigung noch ändern? Oder wollt ihr lieber zu den traditionellen Rollen zurück? Schreibt uns eure Kommentare!
Foto: (cc) wikipedia – Clemensfranz; Portraits: (c) Schumacher – UN Women, (c) Rainey – Natalie Malisse
11 Kommentare Schreib einen KommentarKommentare
Ein Punkt wurde auch schon mehrmals erwähnt ist definitiv die persönliche Einstellung.
Dies betrifft aber nicht nur Männer, sondern ebenfalls Frauen, wenn die Frau sich beispielsweise einen Versorger wünscht, bedeutet dies für eine Statistik, dass es sich in Richtung Diskriminierung bewegt.
Auf der anderen Seite gibt es noch zu viele Männer, die erwarten, dass die Frau den Haushalt übernimmt … manchmal wegen des Geldes, manchmal „weil es eben so sein sollte“ … oder weil er der Alleinversorger ist.
Kommen wir zu den Gesetzen … es gibt definitiv auch in Deutschland Nachholbedarf, sei es bei dem gemeinsamen Kind (Es gibt eine Mutter und einen Vater, sie tun sich schwer, dass es eben auch „nur“ 2 Elternteile gibt und irgendwo noch eine Mutter oder Vater).
Es gibt viel zu tun, ich hoffe, dass wir es schaffen die Diskriminierung zu überwinden und den richtigen (politischen) Weg zu bestreiten.
Was ist das überhaupt für eine Frage? Gleichberechtigung und Gleichstellung sind nicht Glaubenssache, sondern Anforderungen des Grundgesetzes. Wir wollen eine Gesellschaft sein, in der Männer und Frauen dieselben Chancen im Beruf haben.
Gleichberechtigung ja, Gleichstellung nicht zwingend!
Dieser pauschalen Behauptung widerspreche ich. Weil Menschen ihre Entscheidungen unterschiedlich treffen, kann man nicht mit gleichen Ergebnissen für die beiden Geschlechter rechnen!
ich hab den Eindruck, dass Du einfach ‚Gleichstellung‘ gelesen hast und gedacht hast ‚ich bin dagegen‘. Unterschiedliche Entscheidungen führen zu unterschiedlichen Ergebnissen, aber gegenüber Cis-Hetero-(Weißen)-Männern sind alle anderen in ihrer Entscheidungsfähigkeit und ihren Chancen systematisch eingeschränkt, und diese Art von Diskriminierung ist mit dem Grundgesetz unvereinbar.
gut geschrieben, ich hab gezögert weil ich nicht wusste ob ich Frau und Mann schreiben darf ohne dass mich jemand angreift weil ich die anderen Geschlechter nicht genannt habe. Was das bedeutet und welche anderen es gibt weiss ich nicht, ich Weiss nur dass man sonst ein homophober mit rechten Gedankengut ist wenn man nur von 2 Geschlechtern redet 😂
Ok ja ich hab jetzt auch nicht an LGBTIQ gedacht. Im Grunde geht es darum dass systematisch Cis-hetero-Männer gegenüber allen noch immer bevorteilt werden, während alle Menschen gleiche Chancen haben sollten
Gleiche Gehälter. Das fängt im Arzt Beruf an, geht über das Bankensystem, Gastronomie , vielfältige Handwerksberufe ( dazu gehört auch Grafik ) , Lehrberufe bis hin zu Verkaufswesen in allen Branchen. Das bedeutet daß der Mann sich in seinem ganzen Denken umstellen muß, weil sich sonst die Menschheit nicht vom patriarchalen Verhaltens-Muster wie noch in Affen Sippen, oder wie bei Vor-Menschen, fortbewegt sondern wie ein Papst mit seiner wilden Horde und Männlichkeitswahnlehre festhält am Dogma für den Mann welcher Frau unterdrücken und beherrschen soll, auch im eindeutig festgesetzten höheren Gehalt und Lohn. Solange dieser Wahn des Mann-seins nicht ausgeschaltet ist, stagniert die Evolution…welche anscheind sowieso dieser Art Mann – Gesellschaft unangenehm erscheint. Trotz unserer vielen Frauen in Regierung sind die Gehälter immer noch nicht angepasst. Frauen wollen regieren , aber die wahren Probleme werden nicht bearbeitet, d.h. Frau in Regierung vertritt den Mann? Das Grundgesetz ist bis heute der Gleichberechtigung nicht angepasst. Da passt etwas nicht!
Manche glauben.
In Deutschland ist rechtliche Gleichbehandlung normiert. Darüber hinaus gehende politische Maßnahmen zur Herstellung zwanghafter Gleichheit würden m. E. die freien Entscheidungen der Individuellen ohne Rechtfertigung einschränken und verletzen!
Gleichberechtigung ist wichtig und richtig und zu fast 100% erreicht…zumindest in Europa und allen anderen echten Demokratien weltweit.
Gleichstellung ist Blödsinn, denn das käme einer Gleichmacherei gleich und Mann und Frau sind nunmal nicht gleich. Besser ist es immer, die geschlechtsspezifischen Eigenheiten zu akzeptieren und dort zu fördern, wo Sie für das gesellschaftliche Wohl förderlich sind.