Nach einem Jahrzehnt des Sparens hat sich die europäische Wirtschaft erholt. Die letzten zehn Jahre waren aber auch eine Zeit der stagnierenden Löhne und schmerzhaften Anpassung. Millionen Arbeitnehmer in Deutschland arbeiten heute für Niedriglöhne in Vollzeit; Leiharbeit und Minijobs tun ihr Übriges, um die Erfolgsmeldungen vom Arbeitsmarkt anzuzweifeln. Ist das wirklich eine gesunde Wirtschaft?

Niedrige Löhne bedeuten auch niedrige Renten für später. Wer schon jetzt in Vollzeit von Sozialleistungen abhängig ist, wird es bleiben. Betroffene sind vor allem Frauen, Alleinerziehende, Beschäftigte mit Migrationshintergrund und aus Ostdeutschland sowie Arbeitnehmer mit geringer Bildung. In Deutschland herrscht fast Vollbeschäftigung, was aber, wenn der Lohn nicht zum Leben reicht?

Was denken unsere Leser darüber? Im Jahr 2019 erreichte die EU die niedrigste Arbeitslosenquote seit fast zwei Jahrzehnten. Leserin Sophie fordert aber mehr als nur Arbeitsplätze. Die Jobs sollten auch „angemessene Gehälter, Arbeitnehmerrechte, Arbeitsschutz usw.“ bringen. Geht der wirtschaftliche Aufschwung in Europa auf Kosten der Arbeitnehmer?

Wir sprachen für eine Antwort auf Sophies Frage mit Stefan Olsson, dem Generaldirektor für Beschäftigung, soziale Angelegenheiten und Integration bei der Europäischen Kommission. Was sagt er zu Sophies Kommentar?

Ursprünglich gab es nach der Krise im Jahr 2008 in der Tat „ungewöhnliche Arbeitsplätze“. Die neuen Arbeitsplätze, die geschaffen wurden, waren oft befristete Leiharbeitsplätze.

Heute sehen wir, dass die Dauerarbeitsplätze – die meiner Meinung nach das sind, was man als „Qualitätsarbeitsplätze“ bezeichnen würde – wieder zunehmen. Es stimmt also, dass es am Anfang nach der Krise erst einmal Arbeitsplätze gab, die nach Sophies Definition von schlechter Qualität waren. Auf ihnen ruhte die erste Phase der Erholung, aber jetzt wird dieser Trend wieder umgekehrt.

Was also die Frage angeht, ob Europas Wirtschaft von minderwertigen Arbeitsplätze abhängig ist, sie ist sehr komplex. Unsere Antwort wäre aber, Nein, unsere Wirtschaft ist auf hochwertige, hoch qualifizierte Arbeit angewiesen, die einen Mehrwert schafft. Die brauchen wir für unsere Art von Industrie- und Dienstleistungssektoren, die wir in Europa haben. Wir sind also nicht von diesen Arbeitsplätzen abhängig, sondern sie waren für viele Länder ein Weg aus der Krise.

Für eine weitere Meinung sprachen wir mit Arthur Corazza, der am European Student Think Tank die Arbeitsgruppe zur Jugendbeschäftigung leitet und Doktorand an der London School of Economics ist. Was sagt er zu Sophies Forderung?

Ich denke, Stimmen wie die von Sophie sind wirklich wichtig. Wir brauchen in Europa ein neues wirtschaftliches Denken über hochwertige Arbeitsplätze. Anstatt uns nur auf die Beschäftigungsarten zu konzentrieren, müssen wir Aspekten der Qualität wie Arbeitsplatzsicherheit, Arbeitszeit, Vereinbarkeit von Beruf und Familie, kollektive Vertretung usw. mehr Aufmerksamkeit schenken.

Nun zeigen die OECD und das European Trade Union Institute (ETUI) tatsächlich, dass Wachstum und Arbeitsplatzqualität sich gegenseitig verstärken können. Das ist zum Beispiel in Dänemark und Schweden der Fall. Allerdings ist die Arbeitsplatzqualität in Spanien und Italien im Vergleich zu anderen Ländern nach wie vor eher gering. Auch das Beschäftigungswachstum stagniert und der Anteil atypischer Arbeitsplätze steigt. So gibt es in der Tat ein wachsendes Gefälle bei der Arbeitsplatzqualität in der EU.

Konzeptionell trifft dieses Thema wirklich den Nagel auf den Kopf. Meiner Meinung nach hat die Politik, die auch das Sparen beeinflusst hat, hohe Standards als schädlich für den wirtschaftlichen Wohlstand angesehen. Das hat sich aber offensichtlich nachteilig auf die Qualität der Arbeitsplätze ausgewirkt; wenn wir die Wirtschaftskraft auf Kosten der Lebensqualität der Menschen priorisieren, verwechseln wir eigentlich Mittel und Zweck. Die Alternative wäre die Annahme umfassenderer gemeinsamer Ziele. Konkret bedeutet das, die Qualität der Arbeitsplätze ernst zu nehmen, sie muss ein ausdrückliches Ziel für die EU nach 2020 sein.

Profitiert Europas Wirtschaft von schlechten Arbeitsbedingungen? Wurden Qualitätsmerkmale wie Jobsicherheit, Löhne und Vereinbarkeit für ein schnelles Wirtschaftswachstum aufgegeben? Wird sich das Problem mit mehr Wachstum von allein lösen oder ist die Politik gefragt? Was denkt ihr?

Foto: (cc) Flickr – eugenuity; Portrait: Olsson (c) European Commission, Corazza (c) European Parliament


One Kommentare Schreib einen KommentarKommentare

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  1. avatar
    Cemil

    Ja, genau…. Ohne Billig Arbeiter nix los

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