Das Arbeiten hat sich in Deutschland in den letzten Jahrzehnten stark verändert. Eine schnurgerade Karriere bei ein und demselben Unternehmen gibt es schon lange nicht mehr. Die Schulabgänger werden heutzutage darauf vorbereitet, flexibel zu sein, mehrere Ausbildungswege zu gehen, endloses Praktika und befristete Verträge in Kauf zu nehmen.
Die offizielle Statistik spricht ein anderes Bild: Laut Daten und Zahlen geht es dem deutschen Arbeitsmarkt und deutschen Arbeitern ausgesprochen gut. Mit der Einführung des Mindestlohns 2015 haben sich das durchschnittliche Einkommen und die Arbeitsbedingungen vor allem im Niedriglohnsektor verbessert. Wir haben eine der niedrigsten Arbeitslosenquoten in ganz Europa. Die überwiegende Mehrheit der Deutschen ist laut einer Befragung des Statistischen Bundesamtes von 2017 mit ihrer Arbeit zufrieden.
Dennoch fühlen sich viele Menschen abgehängt und unterbezahlt. Oder warum sonst gehen immer wieder tausende von Menschen auf die Straße, um für ihre Arbeitsrechte zu demonstrieren? Vor allem der Pflegebereich scheint der offiziellen Statistik bei weitem zu widersprechen.
Sprechen wir hier von einem Branchenproblem oder liegt mit dem Arbeitsmarkt im Ganzen etwas im Argen?
Was sagen unsere Leser?
Chiara findet, dass die Gehälter in Europa zu niedrig sind und es wenig Sicherheit für Arbeiter gibt.
Wir haben den Generalsekretär des Europäischen Gewerkschaftsbundes Luca Visentini gefragt, wie kann die EU nicht nur „mehr“ Arbeitsplätze, sondern auch qualitative Arbeitsplätze schaffen?
Danke für die Frage Chiara. Es stellt sich zunächst die Frage, wie wir qualitative Arbeitsplätze schaffen können? Wenn wir nichts an der Politik der Makroökonomie der EU ändern, werden wir nicht erfolgreich sein. Deshalb setzen wir Gewerkschaften uns ganz besonders für mehr Investitionen, privat und staatlich ein. Das ist der einzige Weg in Richtung einer grüneren Wirtschaft, einer besseren digitalen Umwelt und um generell mehr Jobs zu schaffen. Qualitative Arbeitsplätze, das bedeutet sichere Arbeitsplätze, gutes Einkommen, gute soziale Absicherung, Arbeitsrechte am Arbeitsplatz, gute Arbeitskonditionen usw. Investition ist also das Schlüsselwort.
Das zweite Schlüsselwort ist Konvergenz, in dem Sinne, dass wir ein enormes Lohngefälle innerhalb Europas haben – zwischen den Mitgliedstaaten von Ost nach West und von Süd nach Nord, aber auch innerhalb der Länder zwischen den verschiedenen Sektoren. Es gibt also die Herausforderung, dass wir generell höhere Löhne in Europa brauchen, aber vor allem in den Ländern, die hinterherhängen. Die Arbeitsbeziehungen und die Tarifverhandlungen müssen in jedem Land gestärkt werden.
Für eine weitere Perspektive haben wir die Frage Alexander Stubb gestellt, dem ehemaligen Premierminister Finnlands. In 2015, sagte Stubb, Finnland sei “der kranke Mann Europas” mit einer Arbeitslosenquote von 10 Prozent und der niedrigsten Wachstumsrate in der Eurozone. Das Land führte daraufhin eine Reihe schmerzhafter Reformen durch (einschließlich der Kürzung der Sozialleistungen), die laut Befürwortern die Wirtschaft gerettet haben, und laut den Gegnern „ungerecht“ waren. Was sagt er zu Chiara?
Ein weiterer Kommentar kommt von unserem Leser Willem, der einen „Wettlauf nach unten“ im Hinblick auf arbeitsrechtliche Reformen befürchtet. Er fordert EU-weite Arbeitsnormen, die von Gewerkschaften ausgehandelt werden.
Was sagt der Generalsekretär des Europäischen Gewerkschaftsbundes Luca Visentini dazu?
Leider Willem ist es so, dass die Europäische Union nur sehr wenig Einfluss auf das Arbeitsrecht hat. Arbeitsrechte fallen noch in die Kompetenz der Mitgliedstaaten. Trotz allem gibt es zwei Dinge, die man tun kann: Die EU kann den Mitgliedstaaten empfehlen, Reformen auszuführen, die die Rechte wirklich jedes Arbeitnehmers in jedem Sektor unabhängig von seinem Arbeitsvertrag oder seinem Status schützt. Leider hat die Europäische Union in den letzten Jahren genau das Gegenteil getan, im dem Sinne, dass die EU Empfehlungen gegeben hat, die den Arbeitsmarkt durch sogenannte „Strukturreformen“ noch mehr fragmentiert haben. Zum Glück ändert sich dieser Trend gerade. Nachdem auf EU Ebene der Ruf nach einer „Europäischen Säule für Sozialrechte“ größer wurde, hat die EU damit begonnen, progressivere Reformen des Arbeitsmarktes zu empfehlen.
Es gilt zudem zu beachten, dass die Europäische Union in jedem Fall einige rechtliche Rahmenbedingungen für die Arbeitsbedingungen festlegen. Natürlich kann sie nicht in nationale Angelegenheiten eingreifen, aber sie kann ein Grundlevel also gleiche Wettbewerbsbedingungen des Arbeitsmarktes in ganz Europa schaffen. Im Übrigen sind momentan genau solche Gesetzesinitiativen auf dem Weg. Es bleibt abzuwarten.
Brauchen wir neue Arbeiterrechte? Wie können wir einen „Wettlauf nach unten“ in Bezug auf arbeitsrechtliche Reformen vermeiden?
5 Kommentare Schreib einen KommentarKommentare
Weil 7.8 mio. der Arbeitnehmer die nicht in der Arbeitslosenstatistik auftauchen geringfügiger Beschäftigung nachgehen, ihr Pfeifen!
Weil die Statistiken Schwachsinn sind?
Statistiken sind eine Momentaufnahme. Ein einziges Bild in einem Film, der doch blos von nem Kameramann gedreht wird. Manche Momentaufnahmen kommen der Realität nah. Manch andere, so garnicht. Alles eine Frage der jeweiligen Perspektive.
Gerade kommt das Abkommen Jefta, ein Freihandelsabkommen mit Japan, in die heiße Phase.
Dabei werden auch gemeinsame Sicherheitszertifakte genannt … gäbe es die Möglichkeit, dass auf bei den jeweiligen Produkten ein Vermerk angebracht wird, aus dem erkennbar wird, welche Arbeitsbedingungen bei der Produktion, Transport oder bei anderen Arbeitssschritten vorherrschen.
In Hinblick darauf, dass obwohl viele Kunden für bessere Lebensbedingungen für Tiere auch zahlen würden, die gekennzeichneten Produkte trotzdem nicht gekauft werden, bin ich mir nicht sicher, ob dies, wenn es sich um Menschen handelt, einen besseren Effekt hätte.
Die Menschen können nicht richtig wählen oder gehen gar nicht wählen