Warum haben Leute für den Brexit gestimmt? Wegen der ganzen Bürokratie und dem Wunsch die Oberhand bei Entscheidungen zu behalten? Oder wurde die Kampagne dadurch befeuert, wie mit der Flüchtlingskrise in 2015 umgegangen wurde und die Bilder von hunderten von Menschen, die die Grenzen in Ungarn überquert haben an den Küsten Griechenlands und Italien ankamen?
Der Anzahl der Asylsuchenden Menschen in der Europäischen Union hat rapide abgenommen und liegt jetzt auf einem Niveau wie vor 2015. Manche sagen, dass die Krise vorbei ist. Doch die politischen Auswirkungen dieser chaotischen Zeit sind noch lange nicht vorüber and der Brexit scheint eine der größten Konsequenzen zu sein. Hat die Flüchtlingskrise zu mehr Euroskepsis innerhalb der EU geführt? War sie der Auslöser für die Brexit-Bewegung? Und sollte es nochmal so eine Krise geben, könnten sich andere Länder auch von der EU entfernen wollen, Deutschland zum Beispiel?
Um die Flüchtlingskrise in Europa näher zu betrachten, haben wir das Projekt „Cities & Refugees“ gestartet. Das Ziel: ein europaweiter Dialog zwischen Bürgern, Asylbewerbern, NGOs, Politikern und europäischen Führungskräften. Ein besonderes Augenmerk legen wir dabei auf die Verbindung zwischen dem alltäglichen Leben der Menschen in Städten und Gemeinden und den Entscheidungen, die in Brüssel und anderen europäischen Hauptstädten getroffen werden.
Heute blicken wir auf Middlesbrough im Norden Englands. Verglichen mit anderen Städten in Großbritannien hat Middlesbrough eine verhältnismäßig große Anzahl an Flüchtlingen aufgenommen. In 2015 kamen auf 200 Einwohner je ein Asylsuchender. Beim Brexit-Referendum stimmten die Einwohner Middlesbrough für „ja“. Über 64 % unterstützen den Wunsch die EU zu verlassen. Gibt es da einen Zusammenhang? Hat die negative Berichterstattungen über die Flüchtlingskrise die Euroskepsis erhöht und die Leute in Richtung Brexit gedrängt?
Möchtest du mehr über den Zusammenhang zwischen Flüchtlingskrise und Euroskepsis erfahren? Wir haben eine Infographik zusammengestellt.

Was sagen unsere Leser? jthk glaubt, dass die Art und Weise, wie die EU die Flüchtlingskrise angegangen ist, zu mehr Euroskepsis geführt hat. Er ist davon überzeugt, dass der Brexit in direktem Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise steht. Hat er Recht?
Das haben wir Suzanne Fletcher gefragt, ehemaliges liberal-demokratisches Ratsmitglied aus Stockton-On-Tees, etwas außerhalb von Middlesbrough. Sie ist derzeit Vorsitzende der Liberaldemokraten für Unterkunftsuchende und machte nationale Schlagzeilen für ihren Einsatz rund um Asylsuchende in Middlesbrough. Was sagt sie dazu?
Ich glaube nicht, dass er Recht hat. Ich bin nicht glücklich damit, wie Europa mit der Flüchtlingskrise umgegangen ist. Es hätte viel mehr Austausch geben sollen, viel mehr Zusammenarbeit. Aber beim Brexit ist es etwas anderes, weil es eigentlich keine informierte Entscheidung war. Wir haben viele Asylbewerber und Flüchtlinge hier, und jeder, der sie kennt, mit ihnen arbeitet, in ihrer Nähe ist – hat keine Probleme mit ihnen. Es ist eine wahrgenommene Bedrohung, die von den Medien angestachelt wurde. Es wurden Probleme aufgeblasen und verzerrt dargestellt oder einfach Falschmeldungen gestreut, welche zu neuen Problemen geführt haben. Aber das war nicht die Schuld Europas.
Für eine weitere Perspektive haben wir jthk’s Frage auch Lorenza Antonucci gestellt. Sie ist Assistenzprofessorin für Sozialpolitik / Soziologie an der Universität Birmingham. Sie erforscht die Hintergründe für die Brexit-Abstimmung. Was haben ihre Studien ergeben?
Ich habe keinen Grund anzunehmen, dass die Art und Weise, wie die EU mit der Flüchtlingskrise umgegangen ist, zum Brexit geführt hat. Man könnte argumentieren, dass der Umgang mit der Flüchtlingsmigration die Euroskepsis in südeuropäischen Ländern oder in Ländern, die eine wichtige Rolle bei der Aufnahme von Flüchtlingen gespielt haben, wie Deutschland, erhöht haben könnte. Und dennoch erhält Merkel für ihre Herangehensweise große Unterstützung. In Großbritannien ist dies nicht der Fall. Nicht nur weil das Vereinigte Königreich eine große Anzahl von Flüchtlingen aufgenommen hat, sondern auch, weil Cameron das Referendum nach einem „gescheiterten“ Versuch, die Mobilität der EU-Migranten und den Zugang zum britischen Wohlfahrtsstaat neu zu verhandeln, ausgerufen hat. Der Umgang mit Flüchtlingen und Migranten aus Ländern außerhalb der EU ist ein komplexes Thema, das hauptsächlich mit den nationalen Gesetzen und teilweise mit der Verwaltung der Grenzkontrollen durch die EU zusammenhängt. Wir können über dieses Thema debattieren, aber auch hier ist das Vereinigte Königreich geografisch und rechtlich (sprich: Schengen) durch EU-Grenzen geschützt. Dies war nicht der zentrale Streitpunkt der Verhandlungen, die der Aufforderung zum Referendum vorausgingen.
Bei so ziemlich allem, was die gegenwärtige Politik betrifft, müssen wir zwischen dem, was die Menschen denken, und der Realität der Politik unterscheiden. Hat also die „Angst vor der Flüchtlingskrise“ bei der Brexit-Abstimmung eine Rolle gespielt? Die Angst vor Flüchtlingen wurde durch die Leave-Kampagne mobilisiert, die von Farage enthüllt, als falsche Nachrichten verurteilt und entfernt wurde. Wir brauchen mehr Studien, um zu beweisen, dass diese Gefühle von den Wählern verinnerlicht wurden und eine Rolle bei der Abstimmung spielten. In unserer eigenen Brexit-Untersuchung haben wir verschiedene Emotionen abgefragt und festgestellt, dass die „Sorge um die Brexit-Abstimmung“ keine Rolle gespielt hat und dass „Gefühle, die ausgelassen werden müssen“, nur bedeutsam sind, wenn sie mit einem wahrgenommenen wirtschaftlichen Verlust in Verbindung stehen. Dies ließ uns glauben, dass das Brexit-Votum mehr Material enthält, als die Erzählung über den besorgten / ängstlichen Wähler, der von den Flüchtlingen verängstigt wird, vermuten lässt.
Ein weiterer Kommentar kommt von unserem Leser Adrian. Er findet, die eigentliche Ursache für Euroskepsis und Populismus ist die Sparpolitik. Sie ist verantwortlich für den Erfolg populistische, anti-europäischer Parteien überall in der EU. Was sagt Suzanne Fletcher dazu?
Ja das ist Teil des Problems. Aber das größte Problem ist die Berichterstattung der Medien und wie die Dinge dargestellt wurden, ob in Print, TV oder in den Sozialen Medien. In Regionen, in denen die Menschen sozial und finanziell schlechter darstehen, war die Brexit-Abstimmung am höchsten. Ich glaube, die Leute sind ziemlich verzweifelt und wissen nicht, wie sich etwas ändern sollte. Sie fühlen sich niedergeschlagen, haben keine Hoffnung, nicht genug Geld, keine Aussicht auf Chancen. Sie sehen keine Zukunft. Und Brexit gab ihnen eine Chance, um etwas zu verändern. Aber das wird es nicht. Es wird alles noch schlimmer, vor allem für die Menschen, die es sich nicht leisten können schlechter gestellt zu sein.
Und was sagt Lorenza Antonucci zu Adrian?
Ich glaube nicht, dass der Brexit eine bewusste Abstimmung gegen die Sparpolitik war, andernfalls wäre bei den folgenden GE-Wahlen eine bewusste Entscheidung in Richtung der Anti-Sparpolitik einstehenden Parteien erfolgt. Aber ich stimme zu, dass die Sparpolitik indirekt beim Brexit-Votum eine Rolle gespielt hat. Im Vergleich zu Migration hat sie faktisch eine Rolle gespielt. Aber die heutige Politik beruft sich auch auf Bewusstseinsbildung. Wir müssen hinterfragen, warum die Sparpolitik zu mehr Angst vor Fremden (EU- und Nicht-EU-Migranten) und mehr Euroskepsis geführt hat, anstatt zu mehr Wut gegen die Elite, vor allem im britischen Kontext.
Der Brexit sagt viel mehr über Großbritannien als über Europa aus. Sparmaßnahmen gab es auch in anderen europäischen Ländern, insbesondere in südeuropäischen Ländern, die jedoch noch nicht mit solcher Euroskepsis reagiert haben. Um zu verstehen, warum die EU zum Ziel einer solchen Frustration der Bevölkerung geworden ist, müssen wir verstehen, wie die EU in britischen Medien und politischen Debatten portraitiert wird. Wie ich kurz nach dem Referendum erklärte, haben die britischen Eliten ihr Wissen über EU-Angelegenheiten als Teil ihres „Kulturkapitals“ beibehalten. EU-Angelegenheiten standen außerhalb des nationalen Lehrplans und in den Debatten in der Öffentlichkeit und in den Medien wurden nur sehr wenige europäische Perspektiven geboten. Aufgrund des fehlenden öffentlichen Interesses an EU-Angelegenheiten ist es leichter geworden, die EU und Europa als Instrument für Schuldzuweisungen durch die nationale Regierung abzustempeln und zu vernachlässigen, dass die EU-Agenda letzten Endes von den Interessen der Regierungen der mächtigen Mitgliedstaaten wie Großbritannien bestimmt wird.
Ich denke, dass die selbstverschuldete britische Sparpolitik bei der Abstimmung eine Rolle gespielt hat. Wir haben festgestellt, dass Personen aus unter Druck geratenen Mittelklasse, deren finanzielle Lage schwieriger geworden ist, einen wichtigen Teil des Brexit-Votums ausmachten. Diese Menschen sind in der Regel unglücklich über die Entwicklung ihres Lebens in den letzten fünf Jahren – und es gibt zahlreiche Beweise dafür, dass die seit 2010 verabschiedete Politik der Konservativen den Konsum eingeschränkt und das materielle Leben der mittleren Bevölkerungsschichten beeinflusst hat. In gewisser Weise hat der Brexit eine Massenopposition verhindert, die sich möglicherweise an die britische Regierung gerichtet hätte (siehe GE-Wahlen 2017).
Zusammenfassend ist zu sagen, dass Sparpolitik als wirtschaftlicher und sachlicher Grund für das Brexit-Referendum gesehen werden kann, aber wir sprechen hauptsächlich über eine selbstverschuldete britische Sparpolitik. Wenn diese Agenda zu einem Brexit im Vereinigten Königreich geführt hat, liegt dies an der Politik der Ressentiments (Angst vor „anderen“, EU-Migranten, Flüchtlingen usw.) und an der besonderen Rolle, die die EU von Beginn des europäischen Projekts in der britischen Politik gespielt hat.
Hat die Flüchtlingskrise die Euroskepsis verstärkt? Ist der Brexit der unnachgiebigen negativen Berichterstattung der Medien zu verschulden? Oder sind die Sparpolitik und der Umgang mit der Flüchtlingskrise Schuld? Schreib uns deine Meinung!
Foto: (c) / BigStock – wael_alreweie
9 Kommentare Schreib einen KommentarKommentare
Wie siehst du das Elizabeth . . ?
schwierig zu vergleichen, wenn die Realität ist dass Mittelmeer hat mehr Flüchtlinge abgenommen als die EU lager
Das denke ich … sie haben sich selbst ein Tor geschossen und damit erst auch noch den Rechtsruck ermöglicht.
Nein. Es gibt eine fulminante Analyse, dass 10 Jahre nach JEDER Finanzkrise der Nationalismus fröhliche Urstände feiert. Und zwar bis zurück ins 17. Jh.
Ich sehe dieser Tage eher wieder eine Brexit-Skepsis. Die wissen nicht was sie wollen, es soll sich blos irgendwas zum positiven verändern, und die etablierten sollen mal geärgert werden. Da kommt es auch mal zu Kurzschlußhandlungen, so daß sich die Dinge eher zum Negativen ändern, entgegen dem was man eigentlich erreichen wollte. Kann hier in Deutschland auch passieren, bei dem ganzen Populismus.
Die Bürger des UK wissen schon sehr genau, was sie mehrheitlich nicht wollen .
Nämlich weiter als Mitglied in einer Union zu verbleiben, welche zum Grössenwahn neigt und in vielen Bereichen jeglichen Bezug zur Realität verloren hat ..
Dann mach mal eine erneute Umfrage,dann gibts keinen Brexit mehr
Andreas,
Da wäre ich aber gar nicht so sicher !
Obwohl ich eigentlich eine glühende Europäerin bin, gebe ich dieser überdehnten EU keine Überlebenschanche mehr.
Es sei denn – man strukturiert dieses Europa um in einen kleinen engeren Kern mit einer Freihandelszone aussen herum.
In letzterer könnten sich dann ja auch die Briten wiederfinden …
Nein, die Euroskeptiker sind dadurch nur lauter geworden. Aber daß sie jemals glühende Anhänger der europäischen Integration waren glaube ich nicht.