Schweden hat eines der großzügigsten Sozialsysteme der Welt. Aber Schweden hat auch, gemessen an der Einwohnerzahl, mehr Flüchtlinge aufgenommen, als irgendein anderes EU-Land. Ist dies ein Widerspruch? Ist es möglich, den eigenen Bürgern gegenüber großzügig zu sein, und Bedürftige von außerhalb willkommen zu heißen? Aber beides gleichzeitig?

Bei den aktuellen schwedischen Wahlen, haben sich die Migrationspolitik und Sozialhilfe als die zwei wichtigsten Aspekte für Wähler abgezeichnet. Auch deshalb haben schwedische Politiker aus dem gesamten politischen Spektrum in den letzten Jahren eine immer härtere Haltung gegenüber Flüchtlinge eingenommen. Das Land hat seine Grenzkontrollen zu Dänemark verstärkt und neue restriktivere Gesetze eingeführt, die darauf abzielen, Schweden als ein weniger einladendes Land erscheinen zu lassen.

In 2017, sank die Zahl der Asylanträge auf ein Achtjahrestief von rund 25.000; ein starker Einbruch ausgehend von der Rekordsumme 2015 mit über 162.877 Asylanträgen. Die schwedische Regierung spricht sehr offen darüber, wie sie mit Asylbewerbern umgeht und etwa zwei Drittel der Anträge ablehnt: Denn nur weil Menschen einen Asylantrag stellen, heißt das nicht, dass ihnen automatisch der Flüchtlingsstatus anerkannt wird.

Um die Flüchtlingskrise in Europa näher zu betrachten, haben wir das Projekt „Cities & Refugees“ gestartet. Das Ziel: ein europaweiter Dialog zwischen Bürgern, Asylbewerbern, NGOs, Politikern und europäischen Führungskräften. Ein besonderes Augenmerk legen wir dabei auf die Verbindung zwischen dem alltäglichen Leben der Menschen in Städten und Gemeinden und den Entscheidungen, die in Brüssel und anderen europäischen Hauptstädten getroffen werden.

Wir richten unseren Blick auf die Stadt Gävle in Schweden. Mit 100.000 Einwohner liegt Gävle in der Region Gävleborg County und hat die höchste Arbeitslosenrate in Schweden (beinahe doppelt so hoch wie der Landesdurchschnitt von 5,9 Prozent). Gävle weist sicher auf die Sorgen normaler Schweden hin, die ein großzügiges Sozialsystem nicht überfordern wollen. Auf der anderen Seite machten im Ausland geborene Migranten, die 2017 nach Gävle kamen, d.h. nicht nur Flüchtlinge, sondern auch Migranten, weniger als 1 Prozent der Bevölkerung aus.

Wollt ihr mehr über Flüchtlinge und Europäischen Sozialsysteme wissen? Wir haben euch eine Infografik zusammengestellt.

Was denken unsere Leser? Mathew schreibt uns: “Ich lebe in Schweden und kann mit Sicherheit sagen, dass Schweden kein rassistisches Land ist…der Grund, warum Schweden seine Flüchtlingspolitik verschärft, ist, dass das Land schon so viele Menschen aufgenommen hat und nun Ressourcen einsparen muss, um den Menschen, die bereits anerkannt wurden, einen ebenso hohen Lebensstandard zu ermöglichen, wie allen anderen Bürgern auch.“

Für eine Antwort auf Matthews Kommentar, haben wir die Europaabgeordnete Kristina Winberg gefragt, Mitglied der rechtsextremen Schwedenpartei. Bei der aktuellen Wahl konnte ihre Partei ihre Stimmenzahl von rund 13 Prozent auf rund 18 Prozent erhöhen. Was sagt sie dazu?

Für eine andere Perspektive haben wir die Frage auch Michael Williams gestellt, stellvertretender Vorsitzender des Schwedischen Netzwerks von Flüchtlingshilfegruppen (FARR). Was sagt er zu Matthew’s Kommentar?

Image of a citizenNun, ich stimme ihm zu, dass Schweden kein rassistisches Land ist, wenn es um Politik geht. Aber mehr und mehr Menschen schließen sich ausländerfeindlichen oder einwanderungsfeindlichen Gruppierungen an. Im Großen Ganzen gesehen, hat er natürlich Recht, man kann Schweden nicht als rassistisches Land klassifizieren. Seine Erklärung dafür, warum die Gesetze sich verscärft haben, kann man einerseits verstehen. Aber andererseits hat die Aufnahme von Flüchtlingen auch neue Ressourcen eröffnet und für viele Menschen neue Arbeitsplätze geschaffen. Schweden hat Flüchtlinge zwischen 2015 und 2016 aufgenommen, und heute geht es der schwedischen Wirtschaft sehr gut. Wirtschaftliche Gründe können es also nicht sein.

Ich könnte mir vorstellen, dass die schwedische Regierung im Herbst 2015 darauf hoffte, dass die europäischen Solidaritätsmechanismen anspringen würden und dass, zumindest das Dublin-Abkommen angewendet würde. Doch als klar wurde, dass die EU darin scheiterte, gemeinschaftlich eine solidarische Lösung zu finden, änderte die Regierung ihre Position und entwarf unter Einbindung der Opposition drei Gesetzesentwürfe: Diese schränkten die Rechte, der bereits anerkannten Flüchtlinge stark ein und stellten neue Asylbedingungen auf, wonach Menschen, die aus Dänemark nach Schweden kommen, Asyl in Dänemark beantragen sollten. Dies führte dazu, dass die Anzahl an Asylanträgen in den letzten zwei Jahren von etwa 163.000 Asylsuchenden auf rund 23.000 pro Jahr sank.

Worin ich Matthew widerspreche, ist, dass man nicht von begrenzten Ressourcen eines Landes in materieller Hinsicht sprechen kann. Weil man nicht sagen kann: “Wir können grundsätzlich nur 55 Millionen Flüchtlinge aufnehmen. Im Moment haben wir 65 Millionen, also müssen 10 Millionen verhungern.” Die Natur des Asylrechts basiert auf grundlegenden Menschenrechten, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden sind, als so viele unschuldige asylsuchende Menschen keine Zuflucht fanden.

Wir erhielten eine weitere Frage von unserem Leser Hector, der sagt, dass Flüchtlinge potenziell neue Arbeitsplätze schaffen können und Jobs übernehmen, für die es nicht genug inländische Arbeitskräfte gibt, was einen positiven Beitrag zur Wirtschaft des Landes leisten kann und eine Win-win-Situation für alle bedeutet. Stimmen Sie zu?

Das Gleiche haben wir Michael Williams vom Schwedischen Netzwerk für Flüchtlingshilfegruppen gefragt. Was sagt er zu Hector?

Image of a citizen[…] Flüchtlinge haben, wie viele andere Menschen auch, sehr unterschiedliche Lebensläufe und Hintergründe. Man kann also nicht übergreifend sagen, dass sie auf die schwedischen Jobbeschreibungen passen. Viele von ihnen verbringen ihre ersten Jahre damit, Umschulungen zu machen und die schwedische Sprache zu lernen. Erst dann können sie anhand eigener Interessen die Fächer oder Studien wählen, die sie benötigen, um einer Profession nachzugehen. Langfristig können sie alsl einen positiven Beitrag leisten. Aber es braucht Zeit, um dorthin zu gelangen.

Diejenigen, die sich selbstständig machen wollen sind meistens in der Mehrzahl; etwa ein Fünftel der Unternehmen in Schweden wird von Migranten betrieben; sie beschäftigen bis zu 300.000 Menschen. Und diese Unternehmer stellen nicht unbedingt nur ihre eigenen Leute ein, sondern beschäftigen eine Menge Leute, die bereits sehr lange in Schweden gelebt haben und sich als gebürtige Schweden verstehen. Aber sie sehen sich viele Schwierigkeiten ausgesetzt, weil die Regeln für Unternehmensgründungen kompliziert sind. Die Finanzierung ist schwierig, denn selbst wenn man in seinem Heimatland eine gute finanzielle Bilanz hat, ist es hier in Schweden wertlos. Sie benötigen schwedische Referenzen für Ihre Fähigkeiten und die Verwaltung eines Unternehmens, und wir haben viele Gesetze und Vorschriften, die möglicherweise in ihrem ursprünglichen Land nicht vorhanden waren.

Wenn sie ein Unternehmen gründen, können sie Schwierigkeiten damit haben, den Markt zu verstehen. Sie müssen die Vorschriften kennen, sie müssen einen Jahresabschluss erstellen und sie brauchen gute Bankkontakte und Investoren. Weil sie nicht in Schweden aufgewachsen sind, fehlt ihnen das Netzwerk, das andere Menschen haben. Es braucht mehr Aufwand und mehr Zeit. Aber wir haben Regierungsstrukturen, die kleinen Unternehmen Geld leihen und ihnen viele Ratschläge geben. Es ist also nicht so, dass sie völlig alleine gelassen werden. Es gibt auch eine Institution von zugewanderten Unternehmern in Schweden (IFS.a.se). Sie geben Leuten, die Firmen gründen wollen, Unterstützung und Rat in verschiedenen Sprachen …

Wie stark belasten Flüchtlinge unsere Sozialsysteme? Sind es nicht eigentlich so wenige Flüchtlinge, dass sie keinen großen Unterschied machen? Oder leisten sie einen positiven Beitrag zur Wirtschaft eines Landes (und damit zu Steuereinnahmen)? Schreibt uns eure Meinung!

Foto: CC / WikiMedia – J J Ellison
Dieses Projekt wurde mit Unterstützung der Europäischen Kommission finanziert. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung trägt allein der Verfasser, die Kommission haftet nicht für die weitere Verwendung der darin enthaltenen Angaben.EU_for_citizens


8 Kommentare Schreib einen KommentarKommentare

Was denkst du?

  1. avatar
    Daniel

    Ein Potenzial ist definitiv gegeben, doch kosten sie zurzeit mehr als sie einbringen.
    Aber wer hätte auch gedacht, dass vor allem hochgebildete, mit herausragenden Deutschkenntnissen und an unsere Kultur angepasste Flüchtlinge kommen … oder diejenigen, die nunmal aus einer Kriesenregion fliehen, ohne Möglichkeit in einem nahen Flüchtlingslager sicher unterzukommen.

    • avatar
      Hermann

      Soso, Potenzial ist also vorhanden. In welcher Form, wenn ich fragen darf?

    • avatar
      Daniel

      Hermann
      Arbeitskraft, neue Ideen, ungenutztes Land oder durch Modernisierung der alten Technik, zugegeben, dies trifft sich auf Deutschland zu, doch denke ich nicht, dass es an der Herkunft der Bevölkerung liegt, dass sie weniger Leisten im stande sind … p.s.: Wenn andere Europäer mehr Geld besitzen, kann dies dem Export dienen.

  2. avatar
    Christian

    Steuerflucht und extralegale Optimierung kosten uns ein zigfaches … oder die Verwaltungskosten der Jobcenter die ein zwölffaches dessen kosten pro Kopf was dieser Kopf erhält…

    Die Diskussion um die Flüchtlingskosten ist die Falsche …

    • avatar
      Hermann

      Wenn Du damit meinst, dass Großkonzerne und Reiche die eigentlichen Geldfresser unseres Systems sind, bin ich bei dir. Aber was die Kosten der Jobcenter an sich angeht, irrst Du. Denn es gibt durch sie einen Effekt, der nicht monetär erfasst wird: Sozialer Frieden.

    • avatar
      Christian

      Die meinte ich… aber für das was die JC sich so „leisten“ sind sie eindeutig zu teuer…..

      Wnn man sich anschaut wie willkürlich dort mit Menschen umgegangen wird und ihnen rechtswidrig Dinge verweigert, wieviel Leute erst in die Depression und dann in die Obdachlosigkeit sanktioniert werden, wieviel Wut und Angst dort erzeugt wird sowie systemische Verachtung dort herrscht, dann frage ich mich wo da der Beitrag für den sozialen Frieden ist….

      Die Zahlen auf dem „Arbeitsmarkt“ kennen die Herrschaften dort genau, aber das ist „politisch so gewollt“. Das haben andere zu anderen Zeiten auch in Anspruch genommen, mit anderen Konsequenzen aber mit der gleichen Apparatschik-Denke die systemisch menschen ihre Existenz entzieht. Wer ein Existenzminimum saktioniertweil es legal ist, der Foltert auch oder schießt wenn es poltisch so gewollt ist.

      Zudem sind aufgrund der engen Überwachung und der Sanktionspraxis die Kosten so hoch, auch das könnte weniger als die Hälfte sein. Bei den Jobcenterkosten sind die Kosten für die Sozialgerichtsverfahren und die Schäden die die Jobcenter anrichten, noch gar nicht eingerechnet. Wenn man dann noch als Schaden einrechnet wieviel Fälle liegenbbleiben, mit denen sich die SozGerichte durch die Belegung mit Fällen der Jobcenter nicht befassen können, was aber ihre originäre Aufgabe ist, dann wird die Zahl extrem hoch….

  3. avatar
    Walter

    Das ist die nächste Billig Arbeiter der Zukunft in Deutschland Merkel und Altparteien brauchen noch mehr Geld

  4. avatar
    Thorsten

    Es gibt noch Probleme. soviel ist klar. Je mehr wir möglichkeiten, gangbare Wege in den Arbeitsmarkt schaffen, desto früher wird sich diese Frage kaum noch stellen. Wir brauchen die Leute.

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