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Sind multikulturelle Gesellschaften zu Instabilität und Konflikten verdammt? Oder sind „mono-ethnische“ Gesellschaften noch viel instabiler? Finden Menschen nicht immer Wege, sich gegenseitig zu diskriminieren?

Europas Geschichte mit Minderheiten ist von Konflikten geprägt. Während den Genoziden des 20. Jahrhunderts sind Millionen Angehörige von ethnischen Minderheiten brutal ermordet oder vertrieben worden. Aber trotzdem: Zu keinem Zeitpunkt in der Geschichte bestanden Staaten aus einer komplett homogenen Bevölkerung.

Heute leben 60 Millionen Angehörige einer ethnischen oder religiösen Minderheit in der EU, das sind etwa 12% der Gesamtbevölkerung. Jedoch ist es schwierig zu definieren, was eine „Minderheit“ überhaupt ist (und manche Länder, wie Frankreich, erkennen Minderheiten nicht einmal offiziell an). Die Wissenschaftler Christoph Pan und Beate Sibylle Pfeil haben jedoch errechnet, dass es etwa 87 verschiedene „Völker“ in Europa gibt.

Wir haben einen Kommentar von TheHarmonicaman bekommen, der glaubt, dass es seit dem Ende des zweiten Weltkriegs sehr wohl, wie er sie nennt, „mono-ethnische Staaten“ in Europa gab und dass das der Hauptgrund für den Frieden nach 1945 sei:

Image of a citizenRespektiert Nationen. Ein großer Faktor zum Beitrag von Frieden in Europa war der Aufbau von mono-ethnischen Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Alliierten… Kann jemand ein erfolgreiches, multikulturelles, demokratisches Land nennen?

Wir haben diesen Kommentar an Stefan Wolff weitergeleitet, deutscher Politologe und Spezialist in internationaler Sicherheit, spezialisiert auf die Prävention von ethnischen Konflikten. Er arbeitet derzeit als Professor für internationale Sicherheit an der Universität von Birmingham in Großbritannien. Was sagt er dazu?

stefan-wolffIch denke, dass ist eine sehr kurzsichtige Betrachtungsweise der Dinge, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa passiert sind. Auf der einen Seite, haben es [die Alliierten] nicht geschafft, komplett homogene Gesellschaften zu errichten; tatsächlich sind die Länder, die den größten Bevölkerungsaustausch erlebt haben, immer noch multi-ethnisch geblieben. Als Beispiel, die Slowakei hat immer noch ein ungarische Bevölkerung von etwa 10%, Polen hat immer noch etwa 200.000 bis 250.000 ethnische Deutsche und auch eine große Zahl von Ukrainern, während Polen auch in der Ukraine und Weißrussland leben. Es gab also diese komplett homogenen Staaten nie, die die Erfinder eigentlich im Kopf hatten.

Und natürlich forderte diese Vertreibung nach dem Krieg viele Menschenleben… Zwischen 1945 und 1947 zum Beispiel, wurden etwa 12 bis 14 Millionen ethnische Deutsche aus Polen, dem heutigen Tschechien und aus Teilen der Slowakei vertrieben. Und je nachdem welche Statistik man glaubt, starben im Laufe dieses Prozesses bis zu 2 Millionen Menschen. Das ist ein sehr großer Preis, der zu bezahlen war.

Gleichzeitig, wenn man weiter westlich schaut, gab es ähnliche „Probleme“ mit Deutschen in zwei französischen Regionen, im Elsass und in Lothringen. Doch dort fand solch eine Vertreibung nicht statt. Trotzdem sind die Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg komplett stabil und es kam zu keinem weiteren Krieg. Wenn überhaupt würde ich also sagen, dass der Frieden gerade wegen dieser konfliktreichen Geschichte aufrechterhalten wurde, nicht weil Menschen nach dem Zweiten Weltkrieg dazu gezwungen wurden, ihre Heimat zu verlassen.

Wir haben eine ganz andere Idee von einem Leser mit dem fantastischen Benutzernamen Riot Chopin zugeschickt bekommen. Er glaubt, dass eine paneuropäische Identität der beste Weg sei, ethnische Konflikte und Diskriminierung in Europa zu stoppen. Was sagt Professor Wolff dazu?

stefan-wolffIch glaube, dass das definitiv eine sehr gute Idee ist, und eine die ich voll und ganz unterstütze. Jedoch bin ich nicht 100% sicher, dass das die Lösung ist… Menschen haben heute sehr hybride und situationsabhängige Identitäten… Es gibt verschiedene Komponenten innerhalb einer Identität und verschiedene Teile davon sind zu verschiedenen Zeiten wichtig. Es gibt also nicht so etwas wie die „europäische Identität“.

Meiner Meinung nach, kann man daher Menschen nicht dazu zwingen, eine europäische Identität anzunehmen und sie ihre eigenen linguistischen, religiösen, regionalen, professionellen, geschlechtlichen und sexuellen Identitäten vergessen machen. Während meines 20-jährigen Studiums von ethnischen Konflikten, habe ich gelernt, dass Menschen dazu neigen, ihre Identitäten zu verteidigen und als umso wichtiger zu empfinden, je mehr sie bedroht sind.

Ich glaube also, dass eine europäische Identität nicht alle anderen Identitäten ignorieren darf, sondern harmonisch mit ihnen koexistieren sollte.

Zum Schluss haben wir Riot Chopins Kommentar auch an Bashy Quraishy weitergeleitet, ein dänisch-pakistanischer Autor und Aktivist, spezialisiert auf die Rechte von Minderheiten. Was hat er dazu zu sagen?

quraishyIch glaube, er spricht da einen sehr interessanten Punkt an, nämlich dass wir jetzt in Europa eine neue Identität brauchen. Bis heute haben Politiker, die Medien, sogar der Papst dafür plädiert, dass Europa als ein christlicher Kontinent identifiziert wurde. Und tatsächlich war es auch ein christlicher Kontinent – aber die Situation hat sich verändert. Es gibt jetzt verschiedene Glaubensrichtungen, verschiedene Kulturen. Wir müssen also neu festlegen, was Europa ist. Kann ein Europäer nur weiß und christlich sein? Oder ist ein Europäer jemand, der sich an die europäischen Werte wie Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit hält? Ich glaube, es ist wichtig, dass wir die Definition der europäischen Identität vergrößern, so dass auch andere Kulturen und Religionen akzeptiert und respektiert werden. Und das wäre dann für mich eine inkludierende, paneuropäische Kultur.

Führt „Multikulti“ zu Konflikten? Oder sind multikulturelle Gesellschaften friedlicher als andere? Teil deine Gedanken mit uns und schreibe unten einen Kommentar. Wir hören, was Europas Experten dazu zu sagen haben.

FOTO: CC / Flickr – Thomas Leth-Olsen


10 Kommentare Schreib einen KommentarKommentare

Was denkst du?

  1. avatar
    lara sophie müller

    ich finde multikulti toll :)

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    Rachelle

    Machiavelli hat darüber geschrieben, seine Beispiele waren Sparta und Rom: Sparta ließe niemanden herein, deshalb wäre es stabil. Rom ließe Fremde rein, aber unter strengen Gesetzen, denen sie sich unterwerfen müssten, deshalb wäre es stabil.

  3. avatar
    Nardo

    Es gibt keine Nation oder antike Form des Staates dieser Welt, die nicht durch mehrere Kulturen intern beeinflusst ist. Multikulturelle ist kein neuer Zustand, es ist der Standardzustand seit hunderten von Jahren. Multikulti ist nur ein nichtssagenden Kampfbegriff

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    Stephan

    Stabilität ist ein Wert von Autokraten und Besitzstandswahrern. Fortschritt bewirkt Änderungen und ist daher grundsätzlich instabil.

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    Marcel

    Stabil ist „Multikulti“, wenn es sich von selbst ergibt. Bedeutet, wenn sich Völker ergänzen und somit gewollt verschmelzen zum Vorteil aller Beteiligten, nicht aber, wenn diese Umstände erzwungen werden. Sei es durch Eroberungen oder durch Diktat der „Oberen“. Es gibt noch nicht mal eine funktionierende Symbiose innerhalb der europäischen Grenzen und das, obwohl die meisten Völker eigentlich gemeinsame Werte vertreten. Stabilität gab‘ es selbst hier noch nie dauerhaft. Noch weitere, viel abstraktere, Weltbilder hier einzubringen und schlimmer noch: Zu fördern, entgegen diesen „gemeinsamen“ Werten, ist der Anfang vom Ende für dieses EU-Konstrukt, sofern es nicht von vornherein dazu gedacht war, als Diktatur zu enden.

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    Phillip

    Es gibt keine Welt ohne Konflikt. Wie man den Konflikt bewältigt, darauf kommt es an, und ich meine ich bin sehr viel fähiger Konflikte mit Worten beizulegen weil ich viel mehr Facetten der Menschheit kenne – dazu gehört auch multikultureller Kontakt

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    Pius

    Muss nicht sein , aber oft ist es eben so, Realitiäten sollte man halt Akzeptieren .

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    Olaf

    Mit Islamisten leider ja. Mit allen anderen könnte es klappen. ;)

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